MIGRATION – Probleme zwischen Einheimischen und Flüchtlingen sind auch in Afrika ein Thema – wie Kenia mit der Herausforderung umgeht
Von Roland Brockmann und Sebastian Drescher
Kakuma /Kenia
Nur eine kurze Sandpiste trennt das gleichnamige Flüchtlingslager von der Kleinstadt Kakuma, und doch liegen zwischen beiden Orten Welten. Das Camp ist die mit Abstand größte Siedlung der Region Turkana im regenarmen Nordwesten Kenias. Eine Art Satellitenstadt mit 190.000 Flüchtlingen, die meisten aus dem Südsudan oder Somalia. Internationale Helfer haben für sie Schulen gebaut, Brunnen gebohrt, und regelmäßig verteilen sie Lebensmittel. Von so viel Hilfe können die Turkana in Kakuma Ort nur träumen. Seit 25 Jahren sehen die kenianischen Anwohner genervt zu, wie Monat für Monat die Hilfskonvois an ihnen vorbei rollen.
Heute kam die letzte Lieferung des Jahres an. Vor der Lebensmittelausgabe von World Vision hat sich eine lange Schlange gebildet, ein großes Hallendach schützt die Wartenden vor der gleißenden Mittagssonne. Die Flüchtlinge registrieren sich per Fingerabdruck und bekommen ihre Rationen Getreide, Bohnen, Speiseöl und Seife. Viel ist es nicht. Aber es ist mehr als das, womit die meisten Turkana auskommen müssen, die als mittellose Viehhirten in der Halbwüste ums Überleben kämpfen. Der Maschendraht um die Halle soll deshalb nicht nur die drängenden Flüchtlinge im Zaum halten. Immer wieder versuchen Einheimische sich Zugang zur Verteilung zu verschaffen oder betteln bei den Flüchtlingen um etwas Essen. Auf den vermeintlichen Luxus des Lagerlebens blicken die Turkana mit Neid.
Und nicht nur sie. Einige Hundert Kilometer weiter östlich, in Dadaab, wo das größte Flüchtlingslager der Welt liegt, kommt es wegen der Ausgabe von Nahrungsmitteln regelmäßig zu Unruhen. Inzwischen sorgen die Flüchtlinge in ganz Kenia für Unmut. Der Grund: Dadaab gilt als Rückzugsort für Schmuggler und Produktfälscher – und für Terroristen. Zwei der Angreifer, die 2015 in Garissa fast 150 Menschen töteten, sollen aus dem Lager von Dadaab stammen. Es war der blutige Höhepunkt einer Anschlagsserie, die auf das Konto der somalischen Miliz al-Shabaab geht.
„Als Brutstätte des Terrors“, bezeichnete Kenias Vizepräsident William Ruto das Lager später und kündigte an, Dadaab schließen zu lassen – die größtenteils somalischen Flüchtlinge nach Hause zu schicken. An der Entscheidung hält die Regierung trotz Kritik von Menschenrechtlern fest. Sie will vor den Wahlen im Sommer bei der Bevölkerung punkten und weiß dabei eine Mehrheit der Kenianer hinter sich. Offiziell soll das Lager im Mai 2017 geschlossen werden.
Die meisten Somalier jedoch wollen nicht zurück. Ihre Heimat gilt als gescheiterter Staat – in dem Gewalt, politische Wirren und Armut den Alltag bestimmen.
Saharo Mohammed hat all das hinter sich gelassen: 2008 töteten al-Shabaab-Kämpfer ihren Vater und ihren Bruder, sie floh über die Grenze ins Camp von Dadaab, wo dann Banditen ihre Hütte plünderten. Deshalb durfte sie 2010 nach Kakuma umsiedeln. “Hier fühle ich mich sicher,” sagt die 27-jährige. Auch wenn das Essen nicht mehr reicht, seit das Welternährungsprogramm im Dezember die Rationen halbieren musste: Saharo ist froh, dass jedenfalls Kakuma nicht geschlossen werden soll. Tatsächlich wächst das Lager sogar, weil nun auch im Nachbarland Südsudan Bürgerkrieg herrscht.
Gerade hat Saharo Mohammed Feuerholz bekommen. Das Holz zum Kochen ist zwar kostenlos, die Ration reicht aber selten aus. Viele Flüchtlinge sammeln deshalb auf eigene Faust in der Umgebung des Lagers. Das ist illegal und sorgt immer wieder für Ärger mit den Einheimischen.
Kommt es zum Streit, muss meist einer wie Chutta Arinye schlichten.”Die Turkana beschweren sich, wenn Campbewohner auf ihrem Land Holz sammeln oder ihr Vieh stehlen wollen”, erzählt der gewählte Flüchtlingsvertreter. Die Lagerverwaltung bietet ihnen dann Geld als Entschädigung an: „Das ist besser, als wenn die Leute sich verprügeln oder erschießen“, meint der 28-jährige Sudanese. In der Vergangenheit sei es oft genug zu Anfeindungen oder Gewalt gekommen.
Auch Jacqueline Rioba von World Vision kennt solche Konflikte:
„Für die Leute ist es schwer zu verstehen, warum die Fremden, die auf ihrem Land leben, besser versorgt werden und mehr Hilfe erhalten”.
Im von den Johannitern betriebenen Camp-Krankenhaus hält Napua Nameyan ihre Tochter im Schoß, während ein Pfleger der Dreijährigen Blut abnimmt; die Kleine leidet an Malaria und Hämoglobinmangel. Napua lebt mit ihrer Familie dreißig Kilometer entfernt in einer aus Zweigen geflochtenen Hütte. Nachts schläft die Nomadin auf einem Ziegenfell. Sie kann weder lesen noch schreiben. Flüchtlinge hat sie stets nur als Eindringlinge wahrgenommen: „Die meisten Turkana wollen das Camp hier nicht“, sagt sie. Doch jetzt, wo man sich im Hospital des Camps kostenlos um ihre Tochter kümmert, sieht sie die Sache etwas anders:
„Ohne das Lager würden viele von uns Turkana sterben, weil wir uns sonst keine medizinische Behandlung leisten könnten.“
In den Büros der Hilfsorganisationen ist diese Botschaft angekommen. Jahrelang haben sie vor allem die Flüchtlinge gefördert, und kaum an die lokale Bevölkerung gedacht: „Es war klar, dass es so nicht weiter gehen kann“, sagt Jacqueline Rioba von World Vision. Die Organisationen hätten dazugelernt:
„Wir müssen beide Gruppen fördern, auch um Konflikte zu verhindern.“
Heute können die Turkana nicht nur den Gesundheitsservice des Camps nutzen, auch dessen Schulen stehen ihren Kindern offen. In der Schule von Edward Olang kommt inzwischen jeder Zehnte aus der einheimischen Bevölkerung. Probleme gebe es keine, die Jugendlichen freundeten sich an, besuchten sich gegenseitig Zuhause. Das gemeinsame Lernen helfe, Vorurteile abzubauen, meint Schulleiter Olang. Tatsächlich sorgt die Öffnung der Klassen auch für mehr Chancengleichheit in der nächsten Generation: Denn während viele Turkana bislang überhaupt keine Schule besuchen, schaffen einige Kinder des Camps sogar den Sprung an eine kenianische Uni. Das drohende Bildungsgefälle beschwört so künftige Konflikte herauf.
Deshalb bildet auch das Trainingszentrum gleich gegenüber der Schule Flüchtlinge und Einheimische aus – egal ob zum Tischler oder Mechaniker. „Seit gestern bin ich geprüfter Elektriker”, erzählt Gabriel Ambross, ein Turkana: “Ich kann jetzt eigenes Geld verdienen und mit dem gewonnenen Wissen meinem Dorf weiterhelfen“. Die gemeinsamen Aktivitäten bauen nicht zuletzt gegenseitige Vorteile ab: Während der Ausbildung hat Gabriel sich mit einem Kollegen aus dem Südsudan angefreundet.
Würde das Lager von Kakuma – so wie wohl das von Dadaab – dichtmachen, wäre das für viele Kenianer in Wahrheit ein Verlust. Etwa für die Händler, die Feuerholz an Flüchtlinge verkaufen oder die kleinen Läden im Lager beliefern. Und noch mehr Umsatz machen sie, seit das Welternährungsprogramm 2015 die Hälfte der monatlichen Rationen als digitale Guthaben ausgezahlt: Bei „Bamba Chakula“ (“Hol dir dein Essen”) empfangen die Flüchtlinge Geld per SMS auf einer speziellen SIM-Karte, mit der sie dann bei bestimmten Händlern, auch lokalen, einkaufen können. Genutzt wird dabei das in Kenia bereits weit verbreitete System “M-Pesa”, mit dem auch Menschen ohne Bankkonto via Handy Geld senden und empfangen können.
Doch Bamba Chakula birgt auch Tücken: Weil viele Flüchtlinge kein eigenes Handy besitzen, müssen sie sich für den Einkauf eines leihen oder dem Verkäufer vertrauen. Das macht das System unsicher. Vor allem wenn geringer gebildete Flüchtlinge dem Händler dann noch die persönliche PIN verraten. Saharo Mohammed aus Somalia findet Bamba Chakula trotzdem gut: „Ich kann so mehr selber bestimmen was ich brauche“, sagt sie: “Etwa frisches Gemüse.” Das stammt von einem einheimischen Zulieferer. Das Welternährungsprogramm muss sich dank Bamba Chakula nicht mehr mit der ganzen Logistik herumschlagen – und die lokale Wirtschaft profitiert.
Immerhin 1,6 Millionen Euro Hilfsgelder flossen auf diesem Wege bereits in die Region Turkana, die vom wachsenden Wohlstand Kenias bislang wenig abbekommen hat.
Roland Brockmann und Sebastian Drescher waren im Rahmen einer vom Bündnis Aktion Deutschland Hilft unterstützen Journalistenreise in der Turkana-Region und besuchten dort unter anderem Projekte der Bündnisorganisationen Johanniter und World Vision.